Flucht 2022
Am 25. April 2022 stiess die «400 Mawozo»-Gang ins Gebiet des Kinderheims vor. Die Gang «Chen Mechant» (böser Hund auf Kreolisch), die sich diese Strassen zu eigen gemacht hatte, verteidigte sich. Das Kinderheim geriet buchstäblich in die Schusslinie der rivalisierenden Gangs. Mehrere Schüsse verirrten sich in den Vorhof, in dem die Kinder normalerweise spielten. Verängstigt versteckten sich die Kinder unter ihren Betten. Nach draussen traute sich niemand mehr. In der Nacht fing es an zu regnen. Sintflutartig strömte das Wasser über die Strasse und es blieb vorerst ruhig. Dann nahmen die Kämpfe wieder zu. Etwa 10 000 Menschen flohen, über 400 Personen starben. Bleiben war keine Option, zu sehr hätte man das Leben der Kinder gefährdet. Aber wohin mit so vielen Kindern?
Gladys Maximilien, die Leiterin des Kinderheims, klärte verschiedene Möglichkeiten ab. Eines war klar: Auf dem Land sind die Gangs weniger aktiv. Sie fand einen Ort mit Schlafmöglichkeit. Die Herausforderung war: Wie bringt man so viele Kinder unbemerkt aus dem Kinderheim? Es wurde geplant, Pläne verworfen und neue gemacht. Am 7. Mai 2022, sehr früh am Morgen, standen vier gemietete Geländefahrzeuge bereit. Viele Kinder drängten sich hinein. Aus Angst wollten alle mitfahren und konnten fast nicht überredet werden, am nächsten Tag mit der zweiten Fahrt mitzugehen. Im Heim blieben einige mutige Erwachsene mit dem Wachpersonal zurück. Sie halten auf weiteres die Stellung, damit das Kinderheim nicht geplündert wird.
Die Fahrer nahmen den Weg über die Berge, der abschüssig und schwierig zu fahren ist. So umgingen sie die Hochburg der Gangs. Nach acht Stunden kamen die Reisenden sicher ans Ziel. Am nächsten Tag trafen auch die anderen, darunter die Heimleiterin, unversehrt ein. Die Erleichterung war riesig!